Renate Solbach: Camera inversa | Hannahs Traum 1/12
Bei Kriegsende war die Mutter noch keine siebzehn. Zwischen vierzehn und sechzehn – eine in der Entwicklung junger Frauen entscheidende Zeit – hatte sie endlose Nächte (und wahrscheinlich auch eine lange Reihe von Tagen) in diesen Erdbauten verbracht, in Bunkern. Dunkle, stickige, überfüllte Keller in der Großstadt, die nach dem Kriege einem Schutthaufen glich. Achtzig Prozent Zerstörung. Als die amerikanischen Soldaten am 6. März 1945 in Köln einmarschierten, was für eine Stadt sahen sie da? Man kann eigentlich nicht mehr von einer Stadt sprechen, das war eine mehr oder weniger menschenleere Trümmerwüste. Die Amerikaner fanden noch höchstens 10.000 Leute im Linksrheinischen vor, ein Bruchteil der Vorkriegsbevölkerung. Das waren überwiegend Alte, Frauen und ein paar Kinder, Volkssturmmänner und noch etliche Soldaten, die hier stationiert waren. Oben die Sirenen, die Flugzeuge, unten das Wimmern und Murmeln der Angst, Gebete, Galgenhumor, zynische Witze, Anzüglichkeiten, Schweiß, fauliger Atem. Endlich wieder ins Freie kommen, frische Luft atmen. Der Gang durch die Straßen. Schutt, Trümmer, Leichenteile, der Geruch verbrannten Fleisches. Die Warnung der Erwachsenen. Nichts anrühren! Es kann dich zerfetzen. Man weiß nie. Hat es zu oft gesehen. Lebend im Land des fortgesetzten Schweigens. Die Schuld – als zugeschriebene oder angenommene kollektiv geworden – bringt es hervor. Die Opfer, die zur Gesellschaft der Täter gehörten, durften sich keine Erleichterung, keine Verarbeitung erhoffen, die im Reden lag. Das Trauma musste schweigend gelebt werden. Schweigend wurde es weitergereicht an die Generation der unentwegt und unermüdlich Fragenden. Wo warst du? Wer warst du? Was hast du gemacht? Die Antwort war Schweigen.
   © Acta litterarum 2009