Renate Solbach: Camera inversa | Hannahs Traum 1/13
Erst fünfzig Jahre später solltest du den Weg zum Therapeuten finden. Zu spät, wie du sagtest. Du erkanntest die befreiende Wirkung der Rede, zu spät. Zu spät für dein Leben. Atemnot, Angstzustände, Herzbeschwerden. Die Rede setzte sie frei. Half es dir beim Sterben? Fünfzig Jahre später? Fünfzig Jahre, in denen du die Verstörung weiter gegeben hattest, Depressionen, Herzbeschwerden, Atemnot, die allgegenwärtige Angst dich zu verlieren, wenn man keine Rücksicht nahm. Rücksicht, die das eigene Leben beschnitt, falls man es deinen schwer nachzuvollziehenden Zuständen unterordnete. Erpressung. Die Abwesenheit jeder persönlichen Erklärung, das war der Mangel. Später erst konnte man das, was man gelernt, sich angelesen hatte, zusammenbringen mit deinem Leiden. Unsicher auch diese Diagnose. Inzwischen gab es wieder die Krankheit der Frauen. Ihr Leiden an der Ehe, an den Männern, an- oder abwesend. Das Leiden an einer Jugend, die scheinbar unbeschwert von diesen Erlebnissen aufgewachsen war, in einer immer reicher werdenden Gesellschaft. Die allen Anstrengungen zum Trotz eure aus den Trümmern erwachsenen Werte mit Füßen trat. Die Leichen werden zum Humus. So oder so. Gab es nicht ein Recht auf Leben? War es nicht verständlich, dass es nicht im Schweigen ersticken sollte. Hier und da wandte sich der Blick von der Vergangenheit auf die Gegenwart. Eine undankbare, böse in euren Augen. Geschahen nicht auch heute wieder Verbrechen? Im Namen von Freiheit und Menschlichkeit. Kambodscha, Laos, Vietnam undsoweiter bis heute. Ihr hattet alles wieder aufgebaut, im Schweiße eures Angesichtes. Hattet dem Kommenden die Wiege bereitet. Ärmel aufkrempeln, zupacken, aufbauen. Trümmerfrauen, Männersache.
   © Acta litterarum 2009