Renate Solbach: Camera inversa | Hannahs Traum 1/29
Ich muss dir ein wenig das Mythchen kühlen. Diese ewigen Bücher, Bilder und Anspielungen, das ist ja gut und schön, aber da ist ein Denkfehler in dem Gebilde. Liebestod. Okay. Ein Phantasma. Wohl wahr. Die Kehrseite. Nun gut. Aber da stirbt nur einer oder eine. Frau Bovary schluckt das Gift. Herr Bovary lebt weiter. Gebrochen, natürlich. Betty lebt weiter. Gebrochen, verstört, nicht liebesfähig. Lenart und Toni sind tot. Gerettet. Für wen? Ob die auf solche Weise Geretteten ihr Glück darin sähen, falls sie noch etwas sähen? Wohl wahr, auch Kassandra hat den Tod gewählt. Den Tod durch das Wort, um der Gewalt zu entgehen. Aber freiwillig. Und zudem, nicht jede ist eine Kassandra, die den falschen Erlöser erkennt. Nachdem das moderne, fabrikmäßig erzeugte Grauen die Tröstungen der Religionen für lange Zeit, wenn nicht für denkende Menschen auf Dauer unbrauchbar gemacht hatte, gab es den Weg zum Therapeuten. Ein Traum? Traumatherapie. Vorausgesetzt, das Wort stand zur Verfügung. Stand dagegen. Leben im Land des fortgesetzten Schweigens. Stand gegen das Tabu. Machte die Wendung möglich. Gab den Blick frei. Johanna und Karl waren heimgekehrt. Sie lernten leben statt überleben, mit der Verstörung. Mehr schlecht als recht. Lebten ein Leben in gemäßigtem bundesdeutschem Wohlstand. Zwei Menschen, die irgendwie ein Paar bildeten. Das Stahlharte, das sie beide auf so verschiedene Weise mitgebracht hatten. Das sich in Blicken auf und Haltungen zur nächsten Generation bisweilen recht unverhüllt zeigte. Ein Ganzes. Die Heimatfront. War auf diese Weise doch noch ein Krieg gewonnen? Wie war nach solchen Kriegserfahrungen der Aufbau einer Zivilgesellschaft möglich? Das fragen wir uns heute alle! Ein wichtiger Grund ist sicher der, dass man darüber nicht authentisch sprechen konnte, weil man dann auch über die Begeisterung für den Nationalsozialismus und den Krieg hätte sprechen müssen. So hat man das eher im Privaten und Geheimen gelassen. Das hat auch etwas damit zu tun, dass man immer direkt oder indirekt beteiligt war an den Verbrechen, die begangen wurden, sei es, dass man als Ausgebombter die Möbel von Juden bekommen hat, sei es, dass man von der Front den Kaviar geschickt bekam, der irgendjemandem weggenommen worden ist. Das wollte man aber nicht sehen, das hat man verdrängt und hat stattdessen eher in den Vordergrund gestellt, wie stark man selber eingeschränkt gewesen ist.
   © Acta litterarum 2009