Renate Solbach: Camera inversa
| Hannahs Traum 1/30
Die
Tochter, Irene, vier Jahre nach Kriegsende geboren, ein Opfer des
beredten Schweigens, entschwand eines Tages nach Neuseeland. Schafe
züchten. Der einzige Kummer der Eltern. Leben im Land des fortgesetzten Schweigens.
Claire, Hannah, Nora, viele andere Frauen, wie immer sie heißen mögen,
die traurigen Heldinnen deiner Romane Marlen. Frauen unterschiedlichen
Alters, unterschiedlicher Schichten mit sehr verschiedener Bildung und
den verschiedensten Träumen. Eines hatten sie gemeinsam: Sie waren
Töchter (oder Töchter der Töchter) von Heimkehrern. Töchter von
Müttern, in deren durch Krieg und Nachkrieg organisierten Frauenleben
und -haushalten es eines Tages klopfte, klingelte. Vor der Tür stand
ein Mann. In wie vielen der sich öffnenden Türen stand ein kleines
Mädchen neben der Frau? Hände, die sich wortlos ineinander schoben.
Schürzen, Kleider, die als Versteck dienten. Ein Mann. Ein Vater? Ein
wenig verwildert, verhärmt, hungrig, fußlahm, mit oder ohne sichtbare
Verwundung, mit unsichtbaren Wunden, in jedem Fall ein Besiegter. Mehr
oder weniger schuldig. Mehr oder weniger verstört. Mehr oder weniger
vermisst, verzweifelt zurückersehnt, verflucht. Einer, für den man
gehofft und gebetet hatte, der schon vergessen, ersetzt oder
abgeschrieben war. (Wieviele der Frauen hatten sich schon auf die Seite
der Sieger geschlagen?) Ein Mann? Ein Vater? Das Schweigen hockte auf
dem Grunde seines Tornisters. ...denn
wer einmal gegangen ist, wird nicht mehr aufgenommen. Er kommt nicht
zurück als der, der er vor seinem Weggang war, und auch die geblieben
sind, sind nicht mehr die sie waren.