Renate Solbach: Camera inversa | Medeas Töchter 1/8
Doch da kommen ihre kleinen Söhne vom Sportplatz.
Sie scheinen unberührt vom Unglück ihrer Mutter.
Die Jugend will von Elend und Schmerz nichts wissen.

Das kannte sie aus eigener Anschauung. Das Leiden der Alten schien aus ihren Fehlern zu erwachsen, während man selber mit dem Schicksal im Bunde stand. Oder war es umgekehrt? Je älter sie wurde..., aber bitteschön, das tut nichts zur Sache, das ändert auch nichts. All die Stunden des Zuhörens, sie hatten die merkwürdigsten Gefühle in ihr produziert und an die Oberfläche gespült. Das mit dem Zuhören gelang heute nicht. Es haperte wohl an der nötigen Konzentration. Irgendwie liefen die Dinge durcheinander. Das Schauspiel ließ die Gedanken schweifen und in Dimensionen ausgreifen, deren Vorhandensein sie im Alltag aus guten Gründen ignorierte oder in den Hintergrund schob. Söhne oder Töchter. Das machte einen fundamentalen Unterschied. Hätte Medea eine Tochter gehabt... Der Gedanke an ein mögliches – vielleicht möglich gewesenes – Leben verursachte stets dieses Ziehen. War das Trauer? Doch das menschliche Herz ist unerschöpflich an Traurigkeit: ein- oder zweimal zieht das Glück darin ein, aber aller Jammer der Menschheit kann sich dort vereinigen und als Gast darin hausen. Wenn man mich gefragt hätte, was mir fehlte, so hätte ich keine Antwort gewusst. All die unnötig erscheinenden Umwege.
   © Acta litterarum 2011