Renate Solbach: Camera inversa
| Medeas Töchter 1/9
Inzwischen war sie
entschlossen, ihren Traum zu verwirklichen. Koste es, was es wolle. Man
muss es sich nur leisten können. Nein, ›man muss sich sich leisten
können‹. Sie hatte nicht immer verstanden, wovon er sprach in diesen
Stunden, die, selten genug, nur ihnen beiden gehörten. Der Roman.
Manchmal konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er eine
Grenze zog, als rede er über den Gartenzaun. In dieser, seiner Welt bewegte er sich sicherer als in der, die sie beide umgab.
Damals oder heute? Machte das einen Unterschied? Viel zu jung war sie
gewesen, um wirklich zu begreifen. Doch das tat der Intensität und dem
Gefühl der Vertrautheit keinen Abbruch. Worauf es sich gründete, konnte
sie bis heute nicht mit Bestimmtheit sagen. Söhne oder Töchter? Die
öffentliche Abtreibung solcher Fragen. War das Emanzipation? Sie hatte
nur eine Tochter. Sie war ein Kind ohne Vater, wie ich eines war. Auf
dieser Welt gibt es keinen Vater. Sie konnten ihrem Schicksal nicht
entkommen. So oder so. Manchmal kann ich die raschen Verwandlungen der Szene nicht ertragen, die Übergänge nicht fließend machen. Es ist schmerzlich, jawohl schmerzlich, keinen Vater zu haben. Im
allerfrühesten Stadium seiner Individuation ist das Kind nicht nur
faktisch eins mit der Mutter, sondern darüber hinaus mit der ganzen
Welt, mit dem Kosmos, in mystischem Nebel fließend, jenseits der
Sonderungen von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Noch schmerzlicher ist es, wenn er da ist und doch nicht da.