Renate Solbach: Camera inversa | Medeas Töchter 1/10
Er erreicht dich nicht. Der direkte Blick ist verstellt, verstellt vom tagtäglichen Gift, das langsam, aber sicher in deine Adern rinnt. Du kannst dich nicht dagegen wehren. Man kommt nicht an der grausamen Schlussfolgerung vorbei, dass die Mutterliebe nur ein Gefühl und als solches wesentlich von den Umständen abhängig ist. Viel zu lange hatte sie ihn durch die Augen der Frau gesehen. Viel zu spät den Hass in diesen Augen erblickt. Noch später begriffen, dass er ihnen beiden galt. Eigentlich erst an ihrem Grab, doch da war es endgültig zu spät...

Ach, mein Leid ist erbärmlich, mein Leid ist groß,
ich klage zu Recht.
Unselige Kinder, der Hass der Mutter
auf den Vater wird euch verderben.
Die ganze Familie soll untergehn.

Wow, diese flammenden Haare, diese Fülle. Genau ihr Frauentyp! Sie hatte ziemlich lange gebraucht, bis sie begriff, dass dem kein flammendes Inneres entsprechen musste, dass diese Frauen nicht unbedingt hehre Gedanken hegten. Wenn überhaupt. Nicht angekränkelt von der Blässe des Gedankens.
   © Acta litterarum 2011