Renate Solbach: Camera inversa | Medeas Töchter 1/11
Es war ihr heute noch peinlich. Wie spöttisch Edgar reagiert hatte, als sie ihn mitschleppte, um ihm die Frau zu zeigen, die sie gerne gewesen wäre. Sie wusste nicht einmal mehr den Titel des Films, geschweige denn den Namen der Schauspielerin. Ganz schön rachsüchtig die Dame. Man schleppt die ganze Vergangenheit mit sich, ob man will oder nicht. Alles aktuell Erfahrene bricht sich an den alten Strukturen. Man kann nicht entkommen, denn die alte Geschichte mustert das gegenwärtig Wirksame. Das war der Lauf der Welt. Trivialer Gedanke. Verliebt, (verlobt), verheiratet, geschieden. Ein Kinderspiel. Diese imposante Person. Medea. War sie wirklich eine kluge Frau? Bestand ihre Klugheit nicht in einer verblendenden Anwendung – verblendend und verheerend – der gesellschaftlichen Regeln ihrer Zeit? Sie zerrte die Kinder in ein Spiel, das aller Aufgeklärtheit zum Trotz, die die seitdem vergangene Zeit gebracht hatte, noch heute von unzähligen Menschen gespielt wurde. Von Männern und Frauen, je nachdem, wie die Vorstellungen und vor allem die Ökonomie einer kulturellen Gemeinschaft es erforderlich zu machen schienen. Das Spiel um die Kinder als Spiel um die Zukunft. Das Spiel um die Kinder als Spiel um Zugriff nach der Deutungshoheit über die Rolle von Mann und Frau. Zuerst versah sie die Kinder mit der tödlichen Botschaft, handgreiflich in dem Gewand, das sie ihnen als Geschenk an die neue Frau mitgab. Es ist eben alles eine Frage der Einkleidung. Der nächste Schritt bestand in der Tötung der Kinder. Sie gab vor, sie dem negativen Zugriff der Umgebung zu entziehen. Die Kinder wurden nicht gefragt. Sie benutzte sie als Waffe zur Vernichtung des Mannes, da ihr der direkte Zugriff mit Hilfe der Kräfte, die sie zu seiner Gewinnung angewandt hatte, versagt war.
   © Acta litterarum 2011