Renate Solbach: Camera inversa
| Medeas Töchter 1/12
Der Zauber war verblasst. Schlangen
also verstand ich zu zähmen und wütende Stiere, / doch einen einzigen
Mann nur zu bezähmen mißlang. / Ich, die ich loderndes Feuer vertrieb
mit listigem Zauber, / kann meinem eigenen Brand nicht einmal selber
entgehen. / Zaubersprüche und Kräuter, die eigenen Künste versagen...
Wenn der eigene Zauber versagte, besannen sich viele Frauen auf ihre
Rolle als Gebärerinnen der Nachkommenschaft, als ›Hüterinnen des
Lebens‹ und vergifteten das Klima zwischen den Geschlechtern und
zwischen den Generationen. Ich steh' allein, mich schützt kein Staat vor Freveln / Des Mannes, der nach Hellas mich entführt hat.
Da war die Vorgeschichte vergessen. Die Frau, die alles ›opferte‹, dem
Mann zu helfen gegen den Vater, die kein Mittel scheute, nun war sie
nur noch Opfer. Nie würde sie den Hass in den Augen der Frau vergessen
können, der ihr den Blick auf den Vater verstellt hatte. Nicht nur auf
ihn, auch auf die Männer der eigenen Generation. Es war ein mühevoller
Prozess gewesen, sich davon zu befreien. Es hatte des Durchgangs durch
diese scheinbar im Mythischen geknüpfte Beziehung bedurft, die in einer
konventionellen Ehe mündete. An deren Ende war klar, dass das Gebären
von Kindern allein nicht ausreichte. Die schöpferische Kraft, die dem
Denken und Schreiben innewohnte. Schreiben als Weg, sich klar zu werden
über das, was um sie herum vorging. Verwandlung in Text. Es war eben alles eine Frage der Einkleidung.
Schreiben als Gegengift gegen das Nessusgewand. Das hatte sie von ihm
gelernt, aber nicht auf direktem Wege. Viel zu spät hatte sie
begriffen. Arglos setzen unsere
Eltern uns zweimal in die Welt, das zweite Mal durch ihren Tod. Gegen
den Tod aufbegehrend, akzeptieren wir leichter das Vermächtnis ihrer
Charakterzüge.