Renate Solbach: Camera inversa
| Medeas Töchter 1/13
Der Kampf hatte
lange Zeit nach dem Tod der Mutter in ihr getobt. Daher sicherlich auch
ihr Interesse an dem Thema. Obwohl. Sie hatte die Karten schließlich
geschenkt bekommen. Sie wusste nicht einmal. von wem. Der Brief hatte
zu ihrem Geburtstag im Kasten gelegen. Maschinengeschrieben die
Glückwünsche. Liebevoll schaute sie auf Sarah, die unwillkürlich ein
wenig näher gerückt war und den Arm unter ihren geschoben hatte. Sie
tauschten ein Lächeln. letztendlich ermöglichte ihr das väterliche Erbe
die Befreiung aus den mütterlichen Einspinnungen. Es erlaubte die Fäden
zu durchtrennen. Die Befreiungstat. Und doch blieb jede solche Tat im
mütterlichen Bannkreis. Was gewesen war, konnte man nicht ungeschehen
denken. Man konnte sich nur dazu verhalten. Wäre sie doch früher sehend
geworden. Welches Leben hätte das ermöglicht!? Trauer und Ratlosigkeit
bemächtigten sich ihrer. Vielleicht war es ja einfach Sehnsucht. Diese
Macht, die einem als offene Möglichkeit vorgaukelte, was gar nicht zur
Wahl stand. Konnte dieser Typ da vor ihr nicht einfach mal still
sitzen? Wieso war ihr die Klarheit erst nach dem Tode der Mutter
zugekommen? Warum hatte sie den vernichtenden Hass erst an ihrem
Grab ›sehen‹ können? Wieso überfielen sie auch danach immer wieder
Zweifel, ob die neu erworbene Sicht der Dinge die richtige war? Warum
traute sie dem eigenen Erleben nicht mehr als dem Gerede der anderen?
Immerhin war diese andere ihre Mutter gewesen, ja, gewesen. Während
der Mittwochsitzung hatte Dr. Beuscher einen Satz gesagt, der sie
wärmte wie ein Schluck Brandy: »Ich erlaube Ihnen, Ihre Mutter zu
hassen.«