Renate Solbach: Camera inversa
| Medeas Töchter 1/14
Dauernd musste der Typ mit seiner Nachbarin flüstern, die sich alle fünf Minuten räusperte. In
einem sentimentalen Matriarchat des Miteinander bekommt man schwer die
Erlaubnis, die eigene Mutter zu hassen, ganz besonders eine Erlaubnis,
die man glaubt. Psst! Echt ätzend!
Frauen aus Korinth,
ich bin zu euch herausgekommen,
damit ihr mir keine Vorwürfe macht.
Ich weiß wohl, dass manche Menschen
für hochmütig oder arrogant gehalten werden...
Verschleierung. Täuschung. Das kannte sie zur Genüge. Menschliche Rede
bewahrte über die Jahrhunderte eine unvermutete Konstanz. Eine
Heuchlerin war sie, jawohl, eine Heuchlerin! Das Äußere trog und die
anderen ließen sich stets aufs Neue einwickeln. Die Psyche als
japanisches Haus mit beweglichen Wänden. Auf diese Weise verloren die
Fakten ihre Festigkeit, wurden form- und dehnbar. Medea. Die
Mutter. Ach was. Das verdammte Stück. Alles ging durcheinander. Draußen
im Gespräch mit den anderen Frauen war der Hass nicht zu sehen. Aber
wehe, wenn sie im Hause waren. Sie war ein böses Kind. Eigensinnig und
verstockt. Machte der Mutter nur Schwierigkeiten. Immer posaunte sie
die Wahrheit hinaus. Ihre Wahrheit. Die Wahrheit der Mutter war stets
eine andere.