Renate Solbach: Camera inversa | Medeas Töchter 1/15
Der Vater erhielt einen Bericht davon, wenn er am Wochenende nach Hause kam. Er arbeitete in einer anderen Stadt, lebte mit fremden Menschen. Das Kind wusste zu diesen Berichten nichts zu sagen. Schwieg mit hängendem Kopf und auf dem Rücken verschränkten Armen. Der Vater musste wissen. Der Vater war klug. Aber der Vater war ein Mann und Männer waren schwierig. Schwierig, unvernünftig und uneinsichtig. Mit ihnen konnte man nicht reden. Sie hatten einen eigenen Kopf. Die Mutter kannte sich da aus.

Die Menschen sind nun einmal ungerecht,
urteilen schnell nach dem Augenschein,
statt das Innere zu erforschen...

Das Innere gegen den Augenschein. Eine reizvolle Hypothese. Waren es nicht die Frauen, denen man nachsagte, das Innere leuchte aus ihren Augen? Der seelenvolle Blick. Die columnae fatales, die erst in apokalyptischer Endzeit offenstehen, wie es das Chorlied aus Senecas Medea verheißt, und vorderhand die Grenzen des erlaubten Wagemuts markieren: die Schwellen der unbekannten Welt als des Geltungsbereiches der Götter. Der Weise, schreibt Pindar in der dritten Olympie, hält hier an; schrecklich wäre es weiterzuschreiten. Ganz allmählich hatte sie begriffen und sie hatte nahezu gleichzeitig ein Gespür dafür entwickelt, dass es auf eine intrikate, in gewisser Weise sich dazu verhaltende Art auch für sie der einzig redliche und menschliche Ausweg war.
   © Acta litterarum 2011