Renate Solbach: Camera inversa | Medeas Töchter 1/17
Obwohl. Wenn sie an Sarahs Erzählungen dachte... Manchmal wurde ihr das alles ein wenig viel. Niemals hätte sie mit der Mutter über solche Dinge gesprochen. Soviel Vertrauen hätte sie zu keinem Erwachsenen gehabt. »Trau keinem über 30!« Sie erinnerte sich gut. Wenn Sarah wenigstens mit ihrem Vater reden könnte... Der lebte in seiner Welt. Da war ihre Verwirrung und damit auch die Verwirrung der Texte und der Personen – sie sah und empfand sich in allen Rollen zugleich. Sie war Mutter und Tochter, mit allen widersprüchlichen Empfindungen, die das produzierte. Die Männer mussten sich schon selbst befreien aus ihren Verstrickungen. Das Problem der losgelassenen Mutter, der Urmutter, für die im gesellschaftlichen Spiel die Karten neu gemischt waren. Feminismus als Schicksal? Der Wechsel zwischen den verschiedenen Zuständen wurde kanalisiert – Solidarität mit dem Geschlecht nannte man das. 

Da sieht man wie wenig die Männer vom Leben wissen.
Lieber möchte ich dreimal in den Krieg ziehen müssen,
als einmal nur gebären!

Was für eine seltsame Wendung. Die Bedeutung dieser Passage hatte sie aus der alten Übersetzung anders in Erinnerung. Euripides? Man sagt, wir leben friedlich, ungefährdet / Im Hause, wenn sie gehn zum Lanzenkampf. / Wie töricht! Lieber will ich dreimal stehn / Im Schildgedräng' als einmal niederkommen. Eine kleine Differenz, wohl wahr, aber eine signifikante. Leben nehmen schien aufregender als geben.
   © Acta litterarum 2011