Renate Solbach: Camera inversa | Medeas Töchter 1/19
Die neue Übersetzung stammte von einem Mann, doch das hatte nicht viel zu sagen. Mancher Mann war neuerdings feministischer als die Frauen. Als Kind hätte Nora diesen Sätzen unbedingt zugestimmt. Geschichten vom Krieg waren Großvatergeschichten. Im Krieg ging es lustig zu, jedenfalls lustiger als daheim, wenn sie die Reden der Großmutter dagegen setzte, für die der Krieg eine fortgesetzte Jammergeschichte war. Nora hatte immer versucht, sich das vorzustellen: ein von Männern leergefegtes Land. Während die Männer in den Schützengräben lagen und sich die Kugeln um die Köpfe pfeifen ließen, mussten die Frauen zu Hause die schwere Arbeit verrichten, damit sie und die Kinder überlebten. Während die Männer kameradschaftlich durch fremde Länder marschierten, und unentwegt singend die seltsame, unbekannte Landschaft bewunderten, standen die Frauen (und Kinder) Todesängste im Bombenkrieg aus. Sind doch wir Frau'n das traurigste Gewächs. / Erst müssen wir für teures Geld den Gatten / Uns kaufen, dann verfügt er über uns / Als Herr... Manchmal dachte Nora, dass es die Geschichten waren, die Männern und Frauen den Kopf verdreht hatten. Die Männer, die nach Hause kamen und von der Welt erzählten, von ihren Heldentaten. Wie bei Homer. Doch die Niederlage ließ sich nicht fortreden. Was blieb, war die persönliche Listigkeit. Man selber war gescheiter und findiger als die Kameraden, die leider auf der Strecke geblieben waren. Im Wortsinn. Großmutter und Mutter, die sich wissend anschauten. 
   © Acta litterarum 2011