Renate Solbach: Camera inversa | Medeas Töchter 1/20
Der Vater träumte schlecht, er hatte schlimme Erinnerungen, Sorgen – man musste ihm seine Geschichten lassen – er musste das Gesicht wahren können. ...tippte sie ihm sanft auf die Schulter, / lachte leise und lispelte: / Spar dir die Schnurren ruhig für meine Eltern, / die, alt und ein wenig wacklig auf den Beinen, einen wahren Heißhunger / auf solche Geschichten haben, je toller, / desto besser. Ich weiß sehr wohl, dass man alle Orte, / die du beschreibst, bequem zu Fuß oder mit dem Wagen erreichen kann. / Überdies ist Kirke eine gute Freundin von mir und ich darf dir versichern, sie ist / nicht halb so schlimm, wie du sie machst. Hatten die Frauen ihnen geglaubt? Das wollten sie auch haben. Etwas erleben. Leben. Da sie es bis heute nicht gefunden zu haben schienen, glaubten sie immer noch, die Männer enthielten ihnen etwas vor – jedenfalls glaubten es die dummen und gutwilligen. Wir leben doch längst im Matriarchat. Leider war mit der Matriarchin ebensowenig Staat zu machen wie mit dem Patriarchen. Junge Frauen hatten es gerne, wenn Männer ihnen das Blaue vom Himmel erzählten. Solange sie verliebt waren. Die Mütter riefen die Väter zur Ordnung. »Erzähl dem Kind nicht solchen Unsinn, es wird ja ganz wirr im Kopf.« Nora hatte bedauert, dass der Vater ihrer Tochter kein Geschichtenerzähler war. Manchmal dachte Nora, die Mütter wollten verhindern, dass aus ihren Töchtern ›Vatertöchter‹ werden. Was mochte das für Gründe haben? Sicher spiegelte es die Enttäuschung über das Leben mit den Männern, eine Enttäuschung, die sie den Töchtern ersparen wollten. Vielleicht war es Neid auf das, was ihnen verloren gegangen war oder was sie – warum auch immer – nie erfahren hatten. ...ist das nicht schlimmer noch als schlimm? / Und davon hängt nun alles für uns ab, / Ob uns ein schlechter oder guter Mann / Beschieden. Scheidung schadet ja dem Ruf / Der Frau... 
   © Acta litterarum 2011