Renate Solbach: Camera inversa | Medeas Töchter 1/22
Nicht minder putzig als all die unterdrückten Damen, über die sie sich auf dem Weg ins Theater mal wieder echauffiert hatte. Halb an-, halb ausgezogen, bereit, sich von Blicken ganz entkleiden zu lassen. Dessous hätte man solche Kleidungsstücke zu anderen Zeiten genannt. Das Innerste nach außen gekehrt. Intimate. Plakatwände, Litfasssäulen, Werbetafeln. Öffentlich vollzogen sie oder ließen sie an sich vollziehen, an ihren Konterfeis, Papierkörpern – Pixel für Pixel liebevoll nachgearbeitet –, was die Feministinnen sexuelle Ausbeutung genannt hatten. Überdimensionale Brüste und Hintern auf Seh-, Riech- und Fühlhöhe gebracht. Welcher Mann zwang sie zu diesem Verhalten? Der Zwang, die von Männern erdachten Frauenbilder freiwillig zu praktizieren? Widersprüchliche Frage. Das richtete sich doch heutzutage an Frauen, oder? Marylin Monroe war noch ein Opfer der Männer gewesen. Madonna aber war selbstbestimmt. Die große Öffentliche. Das wusste doch jede. Die zunehmende Präsenz gewerblicher Zurschaustellung ließ den Schluss zu, dass das Frauenbild in den realen Frauen ein Pendant hatte. Oder war es eine Aufforderung? Mach dich frei! Die Erklimmung einer neuen Stufe? Erica Jong hatte mit Angst vorm Fliegen noch einen Skandal provozieren können, heutzutage titelte schon der Express: Sarah Connor – Ich hatte Sex im Flugzeug.  Ob sich inzwischen die Männer belästigt fühlten? Schon. Aber nicht doch! Was soll man machen? Das kennt man doch. Wirklich geil diese Weiber. Also ich weiß nicht.
   © Acta litterarum 2011