Renate Solbach: Camera inversa | Medeas Töchter 1/23
Ja, ja. Es ist das Skandalon der Frau als Täterin, der Frau, die ihre, patriarchaler Rollenzuteilung nach, natürliche Bestimmung zur Passivität aufkündigt und das Gesetz des Handelns an sich reißt. Der kopflose Mann und die Frau, die die Hände in den Schoß legt. Ein reizendes Paar. Angesichts der Realität hatten sich die Fragen verflüchtigt. Die Zahl der attraktiven Berufe, die sich mit dem Coming-out von wem oder was auch immer beschäftigten, hatte erheblich zugenommen. Der Zwang zum Geständnis. Tätiger Foucault. Auf beiden Seiten. Aber was hatte das mit Medea zu tun?

Wohlauf, besinne dich auf deine Künste, Medea,
besinne dich auf Trug und Tücke!
Schreite zum Äußersten!

Wenn sie so weitermachte, bekam sie von der Inszenierung so wenig mit, dass sie gar nicht sagen konnte, ob die Neufassung gelungen war oder nicht. Wenn keine Moral mehr gelehrt wird, keine Religion mehr Glauben findet, kein Gesetz mehr vorhanden ist, wird uns Medea noch anschauen, wenn sie die Treppen des Palastes herunterwankt, und der Kindermord jetzt geschehen ist... Die Wirklichkeit sah immer anders aus.
   © Acta litterarum 2011