Renate Solbach: Camera inversa | Medeas Töchter 1/24
Mord, der im Verborgenen blüht. Mord, der nur Aufsehen erregt, wenn er zum physischen Tod führt. Mord an der Seele des Kindes. Er wirkte lebenslänglich bei den überlebenden Opfern. Kein Gesetz hat es bisher geschafft, das zu verhindern. Gegen psychische Gewalt, die auf so leisen Sohlen daherkommt, die sich in das Gewand der Mutterliebe kleidet, gibt es keine wirksamen Gesetze. Weibliches Töten ist ein Schritt aus der weiblichen Sprachlosigkeit. Es heißt nichts anderes als: Ich spreche. Jetzt spreche ich. Philosophie von der anderen Seite. In den falschen Händen ein Sprengsatz, eine Brandbombe. Mit dem Feuer spielen. Theoretisch. Foucault im Anderland. Glühen. Verglühen. Die Farbe Rot. Das Rumpelstilzchen. Die roten Schuhe. Die (Schwieger-)Mutter, die auf dem Grab tanzt, bis sie tot umfällt. Feuer unterm Hintern machen. Jetzt spreche ich. Will heißen, ich zwinge euch meine Gesetze auf. Gesetze? Das Gesetz der Gesetzlosen. Gnade. Gnade ist der Zustand der Gesetzlosigkeit. Das Feuer läutert. Im Feuer geläutert. Gebranntes Kind scheut das Feuer. Dass eine wie du mit dem Reden ein Feuer entfacht, einen Brand von der Größe deiner Angst und des Schmerzes, den du gleich spüren, dir einverleiben und wieder ausspeien wirst. Durch welche Feuer musste man gegangen sein, um so zu reden?

Weh, dass die Liebe so zum Fluch
für einen Menschen werden kann.

Ein leises Schuldgefühl stieg in Nora hoch. Habe ich den Menschen um mich herum, unbeugsam die Wahrheit sagend, Verletzungen heimgezahlt, die sie mir beigebracht?
   © Acta litterarum 2011