Renate Solbach: Camera inversa
| Medeas Töchter 1/25
Sie warf einen
verstohlenen Seitenblick auf Sarah, die dem Stück aufmerksam folgte.
Die roten Flecken am Hals hatten sich verflüchtigt und Sarahs Hände
lagen friedlich in ihrem Schoß. Der Zauber des Theaters hatte
eine sanfte Röte auf ihre Wangen gemalt. War sie das Opfer von Noras
Wahrheitsliebe geworden? Diesem Zwang, sich nicht mit den landläufigen
Lösungen zufrieden zu geben. Hatte sie ihr den Vater gestohlen? War
Wahrheitsliebe wirklich die Triebfeder ihres Handelns gewesen oder war
es ein subtiler Racheakt, der die Tatsache überdecken sollte, dass es
mit der mythischen Zusammengehörigkeit nicht so weit her war? Dass ihre
Verbindung sich als ebenso zufällig erwiesen hatte wie alles auf dieser
Welt? Nora war sich selbst nach all den Jahren ihrer Motive nicht
sicher. Beim Friseur hatte sie – man weiß ja, dass die Menschen ihre
Weisheiten beim Friseur erlangen, oder beim Arzt – eine Schlagzeile
gelesen: Traumehe zerstört!
Die Sprache war seltsam unentschieden. War es der Traum von der Ehe
oder die Ehe als Traum? Wenn zwei Prominente sich vermählten, war das
eine Traumverbindung? Wer träumte denn da? War es der Traum des
Schmetterlings, der träumte, ein Schmetterling zu sein oder... Ach was.
Sie hätte sich natürlich auch ganz anders verhalten können. Ob Sarah
damit gedient gewesen wäre? Sie wusste es bis heute nicht.