Renate Solbach: Camera inversa
| Medeas Töchter 1/26
Edgar hatte sich
immer eine Tochter gewünscht. Söhne reproduzierten das Vaterproblem.
Aber er war nun einmal nicht der Vater, und das hatte sie ihm vor der
Heirat gesagt. Wann sonst?
Alles hat sich gewandelt,
Ehre und Lob gilt fortan den Frauen,
üble Nachrede erreicht sie nicht mehr.
Die alten Gesänge der Dichter,
dass wir nur Lug und Trug kennen,
müssen jetzt verstummen.
Eine wunderbare Volte. Wie hieß es vorher? Das Wasser der heiligen Flüsse / fließt zu den Quellen zurück.
Wohl wahr. Damit sind wir zu den Anfängen zurückgekehrt, doppelt
gewendet. Was ist dann die Liebe? Wer bestimmt das? Die, die darüber
schreiben, oder die, die sie leben? Nun haben die, die darüber
schreiben, sie ja auch gelebt und leben sie jeden Tag. Aber in dem
Moment, in dem sie sich als Schreibende verstehen, es nicht einfach nur
tun, ändert sich etwas in dem diffizilen und beweglichen Gleichgewicht
oder Gemisch, ändert sich die Gemengelage. Der verschlossene Garten. Hortus conclusus.
Gedanken sind wie Pflanzen. Sie brauchen den richtigen Boden, müssen
gehegt und gepflegt werden. Veredelt... Undines Journal. Ein
Rechenschaftsbericht über das Projekt Liebe? Ja, ja, ich weiß, das gilt
als veraltetes Modell. Reine Sentimentalität. Es gibt die
Gentechnologie. Und irgendwann kommt alles aus dem Labor. Vielleicht
schon heute...? Wir wissen es nur nicht? Was war dann die Liebe? Nora
stellte sich die Frage erneut. Die Liebe in ihrem ganzen Umfang, die
Mutterliebe gehörte dazu.