Renate Solbach: Camera inversa | Medeas Töchter 1/27
Wie oft las man eine Beschreibung, einen Ausdruck, ein ›gelungenes Bild‹ für ein Gefühl und dachte: »Genau!« Bis zu diesem Augenblick war die entsprechende Episode im eigenen Leben vielleicht vergessen oder nicht mit dem Lorbeer des Besonderen ausgezeichnet. Durch diesen Ausdruck oder Satz kam sie empor, schwebte herbei und verband sich mit ihm. War wieder lebendig. Doppelt erlebt. Im Moment des (Wieder-)Erlebens eine Art lebendiges Metagefühl. – War Erinnerung das Gefühl eines Gefühls? Der andere Zustand. Was war der Unterschied zwischen weiblicher Wendigkeit und Musils Möglichkeitsmenschen? Worte sind Orte, die freigelassen sind im poetischen Gebrauch. Die Worte sind die eigentlichen Möglichkeitsmenschen. Sie begehren alles zu sein – sind es zu gleicher Zeit. Aber der, der sie erweckt, ist nach menschlichem Maß. Immer nur in der Lage, einen Teil auf einmal zu erfassen. Das andere ist dann die Zugabe. Es sieht aus, als sei das Wort der ganze Mensch, die Gestalt, nach der wir uns sehnen, aber zugleich nur die leere Hülle, in die wir alles hineinstecken – was ausdifferenziert natürlich immer mehr wird. Die Bedeutung des Wortes schwillt an, bläht sich wie eine Kaugummiblase. Die dünne Haut, die es von anderen Worten trennt, die, mit denen es sich nicht einlassen darf, um nicht seine Unschuld zu verlieren – als ob es die je gehabt hätte. Evas Traum vom Paradies. Der Schutzraum.
   © Acta litterarum 2011