Renate Solbach: Camera inversa | Medeas Töchter 1/29
Ach, ich armes Weib, wie leicht lasse ich mich
zu Tränen rühren, wie bin ich voller Mitleid!
Dass der lange Streit mit dem Vater vorbei ist...

War das larmoyant oder rührselig? Der Übergang von der ›starken Frau‹ zum ›armen Weib‹ war fließend und von atemberaubender Schnelligkeit. Plante Medea doch heimlich die Rückkehr nach Kolchos? Im Drachenwagen? Die Rückkehr zum Vater? Ach wo!  Zu welchem? Zwei Väter waren ihr Opfer geworden? Oder waren es drei? Die Lust aller großen Untergänge war, dass die Rechnungen gegenstandslos wurden... War das wichtig? Die Rückkehr aus der vaterlosen Gesellschaft. Zu was? Über drei Generationen zog sich das Drama nun. Der im Krieg gefallene Großvater, der plötzlich fünf Straßen weiter mit Frau und Kind auftauchte. Das Geheimnis, das alle kannten. Der vaterlose Vater. Diese Mischung, etwas nicht zu sein, das er sich so sehr gewünscht hatte und etwas nicht sein zu dürfen, was die Frauen – auch die, die er geheiratet und mit der er dieses Kind gezeugt hatte – repräsentierten, prägte sein Verhältnis zu ihr, der Tochter. Und Sarah, das Kind mit den zwei Vätern, das vaterlos aufwuchs. Nachdem sie Edgar als Vater verloren hatte, da er nicht der ›richtige‹ war und es nicht sein konnte, da er sein Kind verloren hatte durch die Intrigen der Frau.
   © Acta litterarum 2011