Renate Solbach: Camera inversa | Medeas Töchter 1/30
Nach dem Abitur hatte Sarah sich auf die Suche nach dem Vater begeben. Ans andere Ende der Welt. Drei lange Monate, die für Mutter und Tochter zum Albtraum wurden, die Telefone heiß laufen ließen. Drei Monate, in denen die Nachrichten von der Tochter ins Schreibdomizil der Mutter einflogen wie Noahs Tauben, die nur zu berichten wussten, dass die Sintflut eine Wahnvorstellung der Arche war und sie bereits seit Jahrzehnten auf dem Trockenen saßen. Das unendliche Projekt der Moderne fiel in sich zusammen. Es ist wahrscheinlich wie mit der Paradiesgeschichte: wenn man nicht richtig hineinkommt, kann man auch nicht richtig aus einer Sache herauskommen. Eingang und Ausgang waren eins geworden und kein Kind rief: Der Kaiser hat ja gar nichts an. Programm geworden fiel die Nacktheit keinem auf. Alle starrten in die Reiseprospekte, während die Ziele der Sehnsucht längst vom Tsunami gefressen waren. Untergegangen im Schlund der ewigen Fluten. All die sich verdoppelnden Gestalten und immer dazwischen sie. Jede Beziehung wurde zur Menage à trois. Wann immer sie an den Vater dachte, legte sich Edgars Bild darüber. Die janusköpfige Mutter, die den Kampf der Frauen ihrer Generation in sich austrug. Und über allem thronte die tote Großmutter. Gespenstisch und mit hängenden Mundwinkeln, bereit, alles und jedes der giftigen Rede zu opfern, einer Rede, die als unterirdischer Strom weiterlebte. Die Rückkehr wohin? In welche Heimat? Keiner hat den anderen gefragt über sein Leben. Es gibt keine Verbindung zwischen ihnen als diese wenigen zufälligen Treffen und das Sprechen über die Toten. Vielleicht hätten Sarah und Edgar eine Chance gehabt, wenn sie geschwiegen hätte. Aber gab es ein Glück, das auf die Lüge baute?

Die beiden Leichen liegen noch nebeneinander,
Vater und Tochter, ein jammervoller Anblick.
   © Acta litterarum 2011