Renate Solbach: Camera inversa | Medeas Töchter 1/31
Inzwischen galt schon das Erzählen selbst als Form der Sinngebung. Das innere Theater. In der vaterlosen Gesellschaft, in der der Freudsche Vatermord nicht mehr stattfindet, da er als Gattenmord schon geschehen ist, geschieht der Muttermord. Der von Müttern begangene Mord an den Töchtern. Vampirexistenz hatte sie diese Lebensform bei sich immer genannt. Das tertium comparationis war die Entkernung oder der menschliche Tod des Opfers, der Person, die es traf. Der Biss war die Wunde, die man ihr zufügte, das Ziel der Austausch der Lebenssäfte, so eine Art negativer Transfusion. Die Vampira stellte sich neben das Opfer – Vater, Tochter – und beobachtete seine Handlungen, Gedanken, Vorlieben und Abneigungen, in dem Bestreben, sich in sie einzupflanzen. Maßgabe der Überlegung war, wie sie es besser machen könnte, wäre sie erst auf den Zug aufgesprungen und hätte die Lenkung übernommen. Den Rest der Zeit war sie dann damit beschäftigt, die unappetitlichen Überreste zu beseitigen, so unauffällig wie möglich. Niemand sollte von der ›Übernahme‹ Wind bekommen. Die von ihr gelenkten, in den Augen der anderen ›irrsinnigen‹ Taten der ›übernommenen‹ Person mussten auf sie zurückfallen. Oberste Regel war, das Opfer vor anderen mit dem Nimbus der Unfähigkeit und Unzurechnungsfähigkeit auszustatten. Ein Vorgang, der – war die Vampira nur einigermaßen hübsch oder unauffällig glaubwürdig, der Kumpeltyp – meist sowohl bei Frauen wie bei Männern mühelos gelang. Auf den Rest, der sich nicht einfangen ließ, konnte sie getrost verzichten, ihn vielleicht sogar bezichtigen. So raste das Opfer, ohne das Geringste zu ahnen, unaufhaltsam dem Abgrund zu. Wieviele solcher Untoten herumlaufen mochten?
   © Acta litterarum 2011