Renate Solbach: Camera inversa | Medeas Töchter 1/32
Schwierig war nicht die Übernahme, schwierig und eine Herausforderung, die den ganzen Einsatz erforderte, war die lautlose und reibungslose Fortführung. Genau darum ging es. Von außen musste man glauben, jemand gäbe sein Leben dahin, würfe es in die Wagschale, um die anderen in Gang zu halten. So war es auch. Aber genau das war der Divergenzpunkt zu dem, was man üblicherweise ›Selbstlosigkeit‹ nannte. Im wahrsten Sinne des Wortes war sie die Voraussetzung für eine Tätigkeit dieser Art. So war stets die Differenz gewahrt. Sich selbst konnte Vampira, die ›Selbstlose‹, immer als geschickter, besser, logischer, oder was ihr einfiel – und auf diesem Gebiet war sie findig und fündig –, herausstreichen. Ihre Weichenstellungen wurden von niemandem bemerkt, der nicht genau hinsah – der Vampirexperte war gefragt. Auch war die Installation nicht schwierig. Eine solche Vampirexistenz hatte zwar die Verkümmerung bestimmter Organe zur Folge, dafür aber fiel ihr ein eigens zum Zweck der Beherrschung des Opfers ausgebildetes zu. In ruhiger, ›selbstloser‹ und ›liebevoller‹ Zuwendung verschaffte sie sich die nötigen Informationen. Der Teil der Beziehung, den das Opfer später als die Zeit der innigen Zuwendung und eines ungestörten Beisammenseins in Erinnerung behalten und die es ihm schwer machen würde, sich aus den Verstrickungen zu lösen. Was natürlich gewollt war. Waren erst alle Informationen zur Hand und vor allem die eine, die über die Stelle, an der der Biss zu platzieren war, um die ganze Person in den Griff zu bekommen und sie für sich laufen zu lassen. Wie der Zuhälter, der seine ›Bienen‹ arbeiten ließ und in den Genuss ihrer Aktivitäten gelangte, indem er ihnen den Honig, sprich das Geld abzockte.
   © Acta litterarum 2011