Renate Solbach: Camera inversa | Medeas Töchter 1/33
Bemerkte das Opfer irgendwann, was mit ihm geschah, so war es meist zu spät. Es sah sich gefangen in den Netzen der eigenen Ängste, Verpflichtungen und Verantwortung. Zudem war es zunächst ausgiebig damit beschäftigt, den Wendepunkt zu bestimmen. Was war geschehen? Wann war die fatale Umpolung eingetreten? Und meist gelang es der Vampira mühelos – wenn sie es überhaupt für nötig erachtete und nicht die Ungewissheit als weiteres Instrument einsetzte, eine Form, die allerdings nur Eingeweihten und Fortgeschrittenen zur Verfügung stand, Nora erinnerte sich in diesem Moment an die Warnungen, die bestimmte Computerprogramme ausspuckten, wenn man in ihren Eingeweiden herumzukonfigurieren versuchte –, auch dafür noch eine Erklärung zu geben, die die Schuldgefühle verstärkte und den Eindruck des Versagens so stark werden ließ beim Opfer, dass dies mitnichten die Auflösung der Situation zur Folge hatte, sondern das Bemühen, endlich das Richtige zu tun, noch verstärkte. Damit war das Hamsterrad komplett. Nicht selten waren die Kinder, die man vor dem fatalen Treiben der Vampira retten, aus ihren Klauen befreien wollte, das Mittel, das die Fäden fester zurrte. Nora seufzte. Genau das war Edgar passiert und auf einmal wusste sie, dass all ihre Gespräche sich in Wahrheit um diesen einen Punkt gedreht hatten. Leider war dabei auch ihre Beziehung in die Brüche gegangen, zur großen Befriedigung dieser Person, denn das war der nicht zu verachtende Nebeneffekt ihrer Bemühungen gewesen. Schließlich war ihr Bedarf groß und frisches Blut nicht zu verachten. Man gab ja nichts dafür auf, denn wo nichts ist, ist auch nichts zu  opfern, was im Übrigen den Einsatz der Opferrhetorik – meine besten Jahre! – nicht im mindesten behinderte, im Gegenteil.
   © Acta litterarum 2011