Renate Solbach: Camera inversa | Medeas Töchter 1/34
Zu guter Letzt hatte er sein Kind endlich in Händen gehalten. Wie groß war das Entsetzen, als er merkte, dass sie auch ihm längst die Kehle des eigenen Lebens durchschnitten hatte und er eine blutleere Hülle in Händen hielt. Die Person – Nora konnte sich bis heute nicht dazu durchringen, sie beim Namen zu nennen. Hatte eine solche Person überhaupt so etwas wie einen Namen? Wer einen Namen hat, den kann man bei ihm rufen und er muss sich dazu verhalten. Es gab aber diese Sorte Allerweltsnamen, die bewirkten, dass eigentlich niemand genau wusste, wer gemeint war. Die Person hatte einen weiteren Trumpf in der Hand: der Mann – erschrocken über den Zustand des geliebten Kindes – verharrte einen Moment zu lange in der schockierenden Situation und schon war das Bild festgezurrt und an die Umwelt übermittelt. Er hatte das Kind getötet, seine Beziehung zu ihm, aus lauter Unfähigkeit. Und daran war ja etwas Wahres, nur dass die Unfähigkeit sich nicht auf das Kind bezog, sondern darauf, das unselige Treiben der Vampira rechtzeitig zu erkennen. Das Ephemeros-Motiv. Noch einen Tag. Der ihr gewährt wurde, trotz des großen Unbehagens, das alle in die Situation verwickelten Personen – war nicht selbst der Chor gefangen? – an der Stelle beschlich. Aber man wollte nicht unmenschlich sein. Das war ein Aspekt der Sache, der andere, dass man diese Person irgendwann gewählt hatte, unter anderen. Oder war sie einem zugefallen? Wer sollte das entscheiden? Zudem hätte es bedeutet zu erkennen oder zuzugeben, dass die Sache sich nicht zufällig ergeben hatte, sondern von Anfang an geplant war.
   © Acta litterarum 2011