Renate Solbach: Camera inversa | Medeas Töchter 1/35
Nun ja – geplant war wohl nicht der richtige Ausdruck, eher musste man sagen ›so angelegt‹, denn eine Vampirexistenz ist eine Anomalie, eine tödliche Krankheit sowohl für den Vampir als auch für das Opfer. Bei Medea trat die Tat offen zutage, aber das war eine Tragödie mit allem, was dazugehörte: einer Peripetie und der Katharsis. Im Leben sah das anders aus und zudem bot eine frauen- und mutterideologisierte Gesellschaft die psychischen Stellwände, um auch eine solche Tat vor den Augen der Gesellschaft abzudunkeln und auf den Mann zurückfallen zu lassen. Das bestgehütete Geheimnis der Kolcher. Ein Geheimnis, das alle kannten, ohne Genaueres zu wissen. Nora seufzte – (zum wievielten Male in diesem Buch? – und die Erzählerin bekam langsam kalte Füße): War das nicht ein wenig zuviel des Guten? War die Form der Emanzipation, die sich in unserer Gesellschaft ereignet hatte, die Ermöglichung der Vampira? Nun endlich auch im Beruf. Unter Emanzipation hatte sie sich vorgestellt, dass die Frauen ihre eigene Sicht auf die Dinge, ihre eigene Moral entwickelten. Statt dessen waren sie auf die Jagd nach den Positionen der Männer gegangen. Den freigelassenen Sklaven – den ersten Emanzipierten – hatte man nachgesagt, sie trügen die Ketten ihrer Gefangenschaft noch im Kopf. Und – Frauenideologie hin oder her – eigentlich stimmte nicht einmal das: eine von starken patriarchalen Strukturen bestimmte Gesellschaft hatte die Parole ›Emanzipation‹ ausgegeben. Über die Gründe konnte man nur spekulieren. Waren sie nur ökonomischer Natur? Die Bewirtschaftung des gender. Die Bewirtschaftung des sex hatten ja bereits diverse Religionen erfolgreich vorgeführt.
   © Acta litterarum 2011