Renate Solbach: Camera inversa | Medeas Töchter 1/37
Ein einziger Beruf schien – bis Pisa jedenfalls – nicht nur völlig unangetastet und unangekränkelt von diesen Überlegungen, er hatte sich anders als in früheren Gesellschaften, die keine verheirateten Frauen in ihm duldeten, als Idealberuf der gut ausgebildeten Frau flächendeckend durchgesetzt: der der Lehrerin. Und damit natürlich auch die Steuerung der kommenden Gesellschaft über oder durch die Köpfe der Schüler. Glaubte wirklich jemand, die Frauen hätten sich auch nur einen Moment mit der Vermittlung von Wissen aufgehalten? Das wäre ja Verschwendung ihrer sozialen Kompetenz gewesen. Nora dachte an die eigene Schulzeit und an die Jungenklassen, auf die sie früher so neidisch geschielt hatte. Weiberkram. Sie verweilte ein wenig bei dem Gedanken, dass auch die Knaben heutzutage von der Wiege bis zum Abitur überwiegend von Frauen erzogen wurden: alleinerziehend, ein Wort, das – mit Hochachtung geraunt und vieles Leid vergessend – die Gegebenheiten der Gesellschaft immer zutreffender verbalisierte und seinen Hintersinn hemmungslos freiließ. Leider konnte man sich nicht einigen, welche Art von Mann dabei herauskommen sollte, denn der ›Softie‹ schien längst wieder out. Na ja, die anderen konnte man sich notfalls in Form nostalgischer Western ›reinziehen‹. Aber so einfach war das nicht – und so hatte die Gegensteuerung in der Gesellschaft, sicher nicht zum Gewinn oder Nutzen der Frauen, bereits eingesetzt.
   © Acta litterarum 2011