Renate Solbach: Camera inversa
| Klytämnestras Gefangene 15/4
und sie, die wie ein Schwan vor dem Tod
ein letztes Trauerlied sang,
liegt neben ihm, seine Geliebte!
Er führte sie mir zu
als Beigericht zu meinem Schlemmermahl –
er brachte sie hierher
als Leckerbissen für sein Bett,
und ich hab an ihr meine Lust gehabt!
Kassandra
erbleichte. Diese Ausdeutung ihres Verhältnisses zu Agamemnon hatte sie
nicht erwartet. Zudem, sie hätte es wissen müssen: Nie erschien
derselbe Text ein zweites Mal. Was sie nicht im Gedächtnis bewahrte,
war verloren. Konnte sie überhaupt etwas tun? Ihre Kraft und Begabung
waren die der Seherin. Das Urteil der Nachwelt lag außerhalb ihrer
Reichweite. Und wenn sie alles aufschriebe, die ganze Geschichte? Aber
welche? War es die ihre? Ließe sich damit verhindern, dass sie
vereinnahmt würde für alle möglichen Vorstellungen, Moden, Ideologien?
Bei Bedarf unterstellte man einer Autorin schlicht und selbstgerecht
falsches Bewusstsein. Rechnete sie zu den Wahnsinnsfrauen. Diffamierung
und Auszeichnung ineins. Resignation machte sich breit. Scribe Sibilla! Der Vergeblichkeit des Tuns war Genüge getan. Wozu weiteres hinzufügen?