Renate Solbach: Camera inversa
| Klytämnestras Gefangene 15/5
Bilder des Festes, zu
dem sie Agamemnon auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin begleitet hatte,
stiegen in ihr auf, trieben ihr die Röte ins Gesicht. Agamemnon konnte
sie keine Schuld geben. Er wandelt im Garten der Sorglosigkeit und sieht erstehen, die unsichtbare, die geträumte Nacht.
Kassandra schloss die Augen und suchte die Bilder der Demütigung
abzuschütteln. Ihr letztes großes Gefühl wollte sie sich nicht vom
Kampf gegen Machtgier und Rachsucht einer Klytaimnestra beschmutzen
lassen.
Langsam, doch unbeirrbar machte sich ihr Geist auf die
Reise über das Wasser, in ein Land, das noch nicht existierte. In eine
andere, vielleicht bessere Zeit. In einem weißen, gekälkten, in der
Mittagshitze durch den vorgeschobenen Fensterladen kühlen Raum, der
einer Klosterzelle glich, ließ er sich nieder. (Unwillkürlich musste
Kassandra an Aeneas denken, den schmerzlich vermissten Freund, der sich
auf seiner langen Fahrt in die Zukunft befand.) Vor der breiten
steinernen Fensterbank stand ein winziger Schreibtisch mit einem
Notebook. Ein Schrank, ein Bett, ein Stuhl waren die einzigen weiteren
Möbel. Ein Geruch von reifen Äpfeln entströmte ihnen. Eine Frau lag auf
dem Bett, in Gedanken gehüllt, der Zeit enthoben. Offensichtlich in
Erwartung. Das intensive Glücksempfinden, das von ihr ausging, umfing
alle Gegenstände im Raum. Zuweilen ist Warten die erste Stufe des
Glücks. Selbst das Licht schien anders als in Kassandras Heimat. Oder
handelte es sich um eine Täuschung? Schien die Sonne, die gelbe
Lichtlaute, nicht immer und an jedem Ort gleich? Neben der Frau lag
eine schwarze Kladde. Kassandra seufzte auf und schlief ein. Tief und
fest.