Renate Solbach: Camera inversa | Schreibgeräte 8/3
Frauen- und Männerbilder, Rollenverhalten, Schriftstellerbilder erzeugen ein Amalgam, das Sprengstoff in Hülle und Fülle birgt. Die ideologischen Verstrickungen, die Kunst und Leben in gleichem Maße bieten in Form von nicht hinterfragten oder zur Großvokabel geronnenen Einstellungen fesseln Prometheus (weiblich oder männlich) auf bedrohliche Weise. Sowohl der veränderte Literaturbetrieb wie auch die unterschiedliche Wertigkeit der Lebensformen, spielen eine wichtige Rolle.
Nora legte das Manuskript, das sie die ganze Zeit in der Hand gehalten und gedankenverloren angeschaut hatte, zur Seite. Ihr war entgangen, dass Andreas sich entfernt hatte. Sie fand ihn vor dem kleinen Eisladen um die Ecke und fasste seine Hand. Der Kreis schloss sich. Die Liebe kann nur erzählt werden, nicht gelebt; wer sie lebt, kann nur davon schweigen. Wortlos miteinander verständigt machten sie sich auf zu einem ihrer abendlichen Spaziergänge.
Auf dem Weg tauchte Nora wieder in die kurzfristig unterbrochenen Überlegungen ein, die sich unter der Glasglocke, die sie beide schützend umgab, entfalteten wie im Treibhaus. Sie versuchte, die vorangegangenen Gedanken zu wenden. Ein Handschuh, den man auf seine Brauchbarkeit hin überprüft. Jedes Muster hat zwei Seiten und die innere – um die Seite der Sache, die auf das Gemachte verweist, bündig zu benennen – ist die, die man meist vor den Augen der Öffentlichkeit zu verstecken sucht, die sich damit aber auch dem eigenen Blick entzieht. Hieß mit jemandem die Liebe leben in zwei Welten zugleich leben? In der Welt und in einem imaginären Raum? Hieß es auf Messers Schneide zu leben auf Dauer? Dafür Sorge zu tragen, dass keine der beiden Welten – um sie in ihrem für die Liebe gleichberechtigten Dasein einfach mit demselben Namen zu belegen – überhand nahm, die andere überlagerte, überwucherte und damit zum Ersticken, zum Absterben brachte? Einem Sterben, dass auf diese Weise auch noch die Färbung des Natürlichen erhielt.
   © Acta litterarum 2009