Renate Solbach: Camera inversa
| Schreibgeräte 8/4
...denn die Liebe sagt sie, die erzählt wird, ist eine Erfindung.
Die Unmöglichkeit der kleinen Meerjungfrau? War sie wirklich eine
Unmöglichkeit oder lag diese nicht im Bild selbst, eingepflanzt durch
seine Wahl? Das Bewusstsein war die wirkmächtigste aller Drogen.
Andreas
stoppte ihre Schritte und wies auf den Eingang. Zielstrebig waren sie –
auch hierin wortlos verständigt – auf eines ihrer bevorzugten Lokale
zugesteuert. Das Caffé Abbondanzia auf dem Corso Palladio. Sie traten
ein. Hier gab es nicht nur die besten Tremezzini, hier tranken sie
meist ihren abendlichen Absinth. Was
wir vorfanden, war mehr eine Erinnerung an ein Café, als ein Café. Du
strecktest die Beine aus, und eine Sekunde verfing sich dein Blick in
meinem. Aber es war noch zu früh für Geständnisse... Ein
schreibendes Paar. Hieß das, die naturgegebenen Schwierigkeiten zu
erhöhen? Die Schraube um eine weitere Windung zu drehen? Nora dachte
wieder an die Lektüre, die ihr in deprimierender Vielfalt diese
Potenzierung der Schwierigkeiten nahe legte. Gab es keinen Ausweg?
Vielleicht war die Liebe ja der Ausweg. Im Gymnasium hatte sie einen
alten Geschichtslehrer, der aus Geschichte Geschichten machte, an denen
sie etwas lernen sollten. An vielfältigen Beispielen hatte er ihnen zu
zeigen versucht, dass die Einschwörung auf ein kollektives Feindbild
eine Grundlage des Zusammenhalts dieser oftmals so künstlichen Gebilde,
die sich Staaten nannten, war. Konnte man diese Einsicht nicht positiv
wenden? Sie versuchte es noch einmal mit einem anderen Bild – zur Zeit
seiner Entdeckung ausgesprochen beliebt als Metapher. Die Natur der
subatomaren Gebilde, die sich ergab durch die Aufmerksamkeit des
Beobachters: Welle oder Teilchen. Gab es von dorther Entlastung?
Richtete sich die Aufmerksamkeit weniger auf die Liebe zueinander als
auf die gemeinsame Liebe zu einem Dritten, die Literatur, so gab es
immerhin die Möglichkeit, dass sie zu einer Quelle des Erhalts und der
Auffrischung der persönlichen Liebe wurde.
© Acta litterarum 2009